Dimitrij Ovtcharov bezwang im „kleinen“ Finale den erst 19 Jahre alten Lin Yun-Ju aus Taiwan nach vier abgewehrten Matchbällen mit 4:3, einen Tag nach der bitteren Halbfinal-Niederlage gegen Ma Long durfte er doch noch jubeln. Herzlichen Glückwunsch!
Nachfolgenden der Spielbericht des Deutschen Tischtennis-Bundes:
Helden-Geschichte mit Happy End: Einzel-Bronze für Dimitrij Ovtcharov
Er ließ den Schläger fallen, schlug die Hände vor das Gesicht, sank auf die Knie und hielt sich am Centercourt-Tisch fest, an dem er soeben wieder Großes geleitet hatte. Der Gratulation durch Lin Yun-Ju folgte eine lange Umarmung von Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf. Dann der Dank an die deutschen Teamkollegen im Tokyo Metropolitan Gymnasium; unendlich erleichtert und glücklich winkte Dimitrij Ovtcharov hoch zur Tribüne und verbeugte sich vor dieser deutschen Mannschaft mit Spielern, Spielerinnen, Trainer-Team und Betreuern, die seinen Erfolg mit ermöglicht haben. Darauf folgte wieder eine Umarmung durch Roßkopf und durch Physiotherapeut Peter Heckert an der Box. So langsam begann Ovtcharov es zu realisieren. Er hatte es geschafft. Nach 2012 hat sich der 32-jährige Weltranglistenachte erneut die Bronzemedaille im Einzel bei Olympischen Spielen gesichert. Taiwans 19-jährigen Superstar Lin Yun-Ju rang er mit 13:11,9:11,6:11,11:4,4:11,15:13 und 11:7 nieder. Dabei wehrte er gleich vier Matchbälle des World-Cup-Dritten von 2019 in Durchgang sechs ab. Neben IOC-Präsident Dr. Thomas Bach war auch der deutsche ITTF-Chef Thomas Weikert auf der Offiziellen-Tribüne vertreten, der Ovtcharov stehende Ovationen zollte.
Dimitrij Ovtcharov und Lin Yun-Ju hatten beide am Vortag epische Sieben-Satz-Matches nach grandiosen Leistungen gegen zwei Topchinesen, Ma Long bzw. Fan Zhendong, verloren und mussten innerhalb eines Tages ihre bittere Niederlage verdauen. Es war aber nicht das Duell der Verlierer, sondern derer, denen das Quäntchen Glück zum Sieg gefehlt hatte. Es war Duell des Modellathleten gegen den pfeilschnellen Drahtigen, des Mannes, der ab dem ersten Ballwechsel seine Freude über den eigenen Punkt druckvoll hausschreit gegen den „Silent Assassin“. Doch selbst der „stille Killer“ Lin hielt gegen Ende der Partie nicht mehr an sich und schrie ebenfalls seinen Jubel nach jedem Punktgewinn heraus.
Weltklasse-Tischtennis auf Augenhöhe
Im Match um Bronze zeigten beide erneut Weltklasse-Tischtennis auf Augenhöhe – spielerisch, taktisch und mental. Dimitrij Ovtcharov startete gut in das Match und hatte in der Verlängerung des ersten Satzes das bessere Ende für sich. Bei den Topspin-Topspin-Rallyes war der World-Cup-Sieger von 2017 im Vorteil. Mit seinem „Rückhand-Einwurf“, wie der Doppel-Weltmeister von 1989 und Olympia-Finalist im Doppel von 1992, Steffen Fetzner, den Aufschlag mit niedrig dosierter Rotation nennt, den Ovtcharov meist kurz, aber überraschend auch mal lang servierte, konnte er Lin eins ums andere Mal überraschen. Dazu der „kleine Tomahawk“ mit der Vorhand, den schon Ma Long am Vortag mehrfach beschäftigt hatte. Doch Lin ist selbst ein Meister des Aufschlags, legte sein Service oft in die Vorhand des Deutschen, der mit seiner gefühlvolleren Rückhand returnierte, seinem Kontrahenten damit aber zwei Drittel des Tisches für Millisekunden öffnete. Die Durchgänge zwei und drei gingen an den Taiwanesen. Kurz solle er die Aufschläge zurückspielen, forderte Jörg Roßkopf in der Satzpause, was Ovtcharov in Durchgang eins so gut gelungen war. Dazu die ersten Angriffsbälle von Lin sicher, wenn auch gut platziert auf den Tisch bringen ohne zu großes Risiko, bis er selbst dann den Ballwechsel mit seinem platzierten Power-Tischtennis bestimmen konnte.
Aus der kurzen Pause mit Trikot- und Short-Wechsel außerhalb der Box kam Dimitrij Ovtcharov wie verwandelt zurück. Er dominierte den vierten Satz, war präsent ab dem ersten Ballwechsel und mit einer überlegenen Körpersprache, spielte aggressiv, wo es ging, war passiv fehlerfrei, und bei Lin Yun-Ju schlichen sich Patzer ein.
Im Fünften dann das umgekehrte Bild. Ovtcharov kassierte zu Satzbeginn eine Verwarnung vom Schiedsrichter wegen seines Aufschlags. Ovtcharov, irritiert, geriet direkt mit 0:4 in Rückstand. Lin Yun-Ju umlief früh mit seiner Vorhand, riskierte noch mehr, variierte die Aufschläge und überrollte den Bronzemedaillengewinner von London mit seiner aggressiven Spielweise.
Vier Matchbälle abgewehrt: die Wende
Im sechsten Satz wehrte Dima dann vier Matchbälle ab: 9:10, 10:11, 11:12 und 12:13 – immer wieder egalisierte der zehnfache Europameister den Spielstand. „Besonders bei einem hatte Lin eine richtig gute Chance“, wird Jörg Roßkopf später die verpasste Möglichkeit Lins beschreiben, und es folgte die Konsequenz, die man im Tischtennis schon so oft gesehen hat. „Nachdem er diese Chance nicht genutzt hatte, ist es für Dima in die Richtung gelaufen, in der er es haben wollte. Dass er im siebten von Anfang an geführt hat, war sehr wichtig.“
Trotz Ovtcharovs 9:3-Führung im Entscheidungssatz gab sich Lin Yun-Ju nicht geschlagen. Unbekümmert, fast frech und vor allem fehlerfrei spielend verkürzte er auf 7:9. „Nach 9:3 zu gewinnen war so schwer“, hörten die TV- und Streaming-Zuschauer Dimitrij Ovtcharov nach Spielende zu Jörg Roßkopf sagen. Und live im ZDF sagte er später: „Da kam die Nervosität noch einmal richtig hoch, und er wurde locker.“ Doch Ovtcharov hielt dem Druck stand. Beim 10:7 nutzte er seinen ersten Matchball und „war danach so glücklich, wie ich gestern traurig war. Das ist hier ein Rollercoaster der Erlebnisse“, beschrieb er seine viertägige Achterbahnfahrt der Gefühle in Tokio. „Lin ist technisch wahnsinnig stark. Er ist auf dem Niveau der besten Chinesen. Beim Matchball, den er im sechsten Satz liegen hatte, dachte ich für ein Bruchteil: Das war’s jetzt für mich! Da hatte ich Hilfe von oben, dass dieser Ball vom Netz ins Aus gegangen ist“, so Ovtcharov.
Familie und Team haben ihn zu Bronze getragen
Wie am Vortag griff er noch vor dem Gang in die Mixed-Zone, wo die Aktiven sich den Fragen der Medienvertreter stellen, zum Handy. Seine Familie in Deutschland hatte mitglitten: Ehefrau Jenny und Töchterchen Emma in Düsseldorf, der Ovtcharov versprechen musste, dass er ihr eine Medaille mitbringen würde, dazu Ovtcharovs Eltern Mikhail und Tatjana, die im niedersächsichen Springe wohnen. Sie hatten ihn zusammen mit seiner Mannschaft aus dem tiefen Loch geholt nach der Niederlage gegen Ma Long. „Ohne ihren Zuspruch und mentalen Beistand wäre ich heute gar nicht aus dem Bett gekommen“, erklärte er vor Journalisten.
Dimitrij Ovtcharov hat die erste Tischtennis-Medaille bei diesen Olympischen Spielen geholt. Es soll mit dem Beginn der Mannschaftswettbewerbe für die deutschen Herren und Damen am Sonntag nicht die letzte sein. „Wenn ich das Spiel verloren hätte, wüsste ich nicht mehr, wie ich essen und aufstehen hätte sollen. Jetzt möchte ich die Jungs umarmen, will sie tragen und mit Timo, ‚Franz‘ und ‚Benne‘ gemeinsam noch eine Medaille holen“, sagte „Dima“ an Timo Boll, Patrick Franziska und Team-Ergänzungsspieler Benedikt Duda gerichtet. „Wir müssen Schritt für Schritt gehen. Wir haben eine schwere Auslosung, aber das ist kein Wunschkonzert und wir konzentrieren uns jetzt auf Portugal. Ich glaube fest an eine Medaille.“ Es gilt in der Mannschaft das Mantra, das ihm auch im Einzel bislang von Nutzen war: nicht den zweiten Schritt vor dem ersten gehen. „Wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf Portugal. Denn wenn man schon weiterdenkt, ist man ganz schnell zu Hause.“
Quelle: Deutscher Tischtennis-Bund, Bild: Picture Alliance